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Was wir wirklich brauchen


Von Rainer Maria Rilke gibt es eine Geschichte aus der Zeit seines

ersten Pariser Aufenthaltes. Gemeinsam mit einer Französin kam er

um die Mittagszeit an einem Platz vorbei, an dem eine Bettlerin saß

die um Geld Bat. Ohne zu einem Geber je aufzusehen, saß die Frau

immer am gleichen Ort und streckte ihre Hand bittend aus. Rilke gab

nie etwas. Seine Begleiterin gab häufig ein Geldstück. Eines Tages

fragte die Französin, warum er nichts gebe, und Rilke gab ihr zu

Antwort: "Wir müßten ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand!"

Wenige Tage später brachte Rilke eine eben aufgeblühte weiße

Rose, legte sie in die offene, abgezehrte Hand der Bettlerin. Da

blickte die Bettlerin auf, sah den Geber, erhob sich mühsam von der

Erde, tastete nach der Hand des fremden Mannes, küßte sie und

ging mit der Rose davon. Eine Woche lang war die Frau ver-

schwunden, ihr Platz blieb leer. Nach acht Tagensaß die Bettlerin

wieder da am gewohnten Platz und streckte ihre bedürftige Hand

aus."Aber wovon hat sie denn all die Tage, da sie nichts erhielt, nur

gelebt?"fragte die Französin. Rilke antwortete ihr: "Von der Rose".

Gott hat unserem Leben nicht nur die Gaben für die Hand

zugedacht, sondern auch die Liebe für das Herz. Gott gab uns nicht

nur die Lebensmittel für das äußere Leben, sondern auch für das

innere Leben. Es geht für uns nicht nur um den Lebensunterhalt,

sondern um den Lebensinhalt. Kein Leben erfüllt sich im Haben von

Dingen, wohl aber im Erfahren einer großen Liebe. Darum gab uns

Gott das Beste, seinen Sohn, seine ganze Liebe und Treue.


"Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir

gezogen aus lauter Güte!" spricht Gott der Herr.


Jeremia 31.3




Aus "Überlebens-Geschichten für jeden Tag" von Axel Kühner